Nein, Heinz Sauer ist ein Gigant, ein „Altmeister des Saxophons“ (DIE ZEIT) und „die unbeugsame Instanz im deutschen Jazz“ (Hans Jürgen Schaal) – und nach wie vor einer der kreativsten Musiker der europäischen Jazzszene. Woche für Woche steht er mit dem hr-Jazzensemble im Studio, dem er seit einem halben Jahrhundert angehört; auf der Bühne sucht er regelmäßig die Abwechslung: entweder im Duo mit Michael Wollny oder dem alten Freund Bob Degen – und in immer neuen Projekten, wie z. B. im Berliner Quartett mit dem Saxophonkollegen Daniel Erdmann.
Als Improvisator und Komponist, der den Respekt vor der Jazztradition mit einer unbezweifelbar zeitgenössischen Eigenständigkeit verbindet, ist er immer wieder ausgezeichnet worden. So bekommt er 1991 den Jazzpreis des Landes Hessen verliehen, 1999 im Rahmen des Jazzfests Berlin den so genannten „Albert-Mangelsdorff-Preis“. Für sein Duo mit Michael Wollny erhält er 2008 den SWR-Jazzpreis und 2011 schließlich den Echo Jazz als bester Saxofonist.
Zu den Aktiven im Herzen des deutschen Jazz gehört er schon lange. 1956 macht er zum ersten Mal auf sich aufmerksam, als er den ersten Preis beim Deutschen Amateur-Jazzfestival gewinnt. Als Schüler im Nachkriegs-Deutschland hatte er im Radio Jazz gehört, diese viel versprechend andere Musik. Erst als Student (Physik und Mathematik in Darmstadt) besorgt er sich ein Instrument und wandelt sich vom begeisterten Jazzfan zum praktizierenden Autodidakten. Zum Üben fährt er auf die Felder vor den Toren Frankfurts und jammt bald abends in den Kaschemmen und Jazzkellern, auch mit den „Amerikanern“.
Als 1960 im Albert Mangelsdorff Quintett der Posten des Saxofonisten frei wird, ist es Heinz Sauer, den der Frankfurter Posaunist und profilierte deutsche Jazzmann fragt. Der ergreift die Chance, wird Mitglied in Mangelsdorffs Band, die bis zu ihrer Auflösung 1978 mit Tourneen durch Asien, USA, Kanada, Südamerika, den Orient, Nordafrika und fünf Schallplatteneinspielungen zu den prägenden Ensembles des europäischen Jazz zählt. Hier präsentiert Sauer eigene Kompositionen und reift als Improvisator zum kongenialen Gegengewicht des Posaunisten, das er bis zu dessen Tod 2005 auch im hr-Jazzensemble bildet.
Schon früh gehört der heisere und doch so energiegeladene Ton des Saxophonisten Sauer zu den markanten Klangfarben des zeitgenössischen Jazz. Selbstverständlich geht er ab 1968 mit den „German All Stars“ auf Auslandstournee und steht 1967 – ´70 mit dem Globe Unity Orchestra um Alexander von Schlippenbach auf den Festivalbühnen in Donaueschingen und Berlin. 1974 gründet er mit Bob Degen, Ralf Hübner, Günter Lenz und Günter Kronberg (bzw. nach dessen Tod 1977 Christof Lauer) die Band „Voices“ und steht 1978 im Mittelpunkt eines Tenorsaxophone-Summits beim Deutschen Jazzfestival in Frankfurt – mit George Adams und Archie Shepp.
In der Folge spielt Sauer mit Adams das Album „Sound Suggestions“ (ECM) ein – mit den Sidemen Kenny Wheeler, Dave Holland und Jack DeJohnette. 1980 trifft er – wieder beim Frankfurter Jazzfestival – auf Bennie Wallace. Sauer, der sich als Autodidakt ein dezidiert europäisches Selbstbewusstsein erspielt hat, wird nun auch international wahrgenommen, Konrad Heidkamp schreibt in der Zeit: „Lebte Heinz Sauer in New York, stünde er im Jazz-Olymp der Saxophonisten.“
Doch er bleibt in Deutschland, setzt sich im Duo mit dem aus Boston eingewanderten Pianisten Bob Degen mit der US-Tradition des Jazz auseinander. 1981 erhält ihr Album „Ellingtonia Revisited“ (MPS) den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik. Fortan bilden sie das Fundament ganz unterschiedlicher Besetzungen: Degen spielt nicht nur im hr-Jazzensemble, sondern auch im Heinz Sauer Quartett und im Trio mit Bassist Stephan Schmolck.
Daneben arbeitet Heinz Sauer in einer Vielzahl von Projekten u.a. mit Hans Lüdemann, Stefan Lottermann, Steve Argüelles, John Schröder und Christopher Dell zusammen. Anfang der 90er Jahre entwickelt er den „Parcours Bleu à Deux“ mit dem Saxofonisten und Multimedia-Künstler Alfred 23 Harth und kombiniert beim Konzert in der Alten Oper die Klänge seines Quintetts mit Synthesizer-Sounds. Schließlich brilliert er auch als Solist mit der NDR Bigband („Ellingtonia“ ACT 9233-2, mit Tomas Stańko, Slide Hampton u.a.).
Seine Vorliebe aber gilt der engen Zusammenarbeit in kleinen und kleinsten Besetzungen, mit verwandten Geistern. Als 1999 der langjährige Duo-Partner Bob Degen zurück in die USA übersiedelt, zerbricht das gemeinsame Trio. Doch das Schicksal meint es gut mit dem wählerischen Individualisten Sauer. Im hr-Jazzensemble, wo Degen ebenfalls eine empfindliche Lücke hinterlässt, lernt er den jungen Pianisten Michael Wollny kennen, damals noch Student an der Musikhochschule Würzburg. Im Rahmenprogramm einer Lesung im Literaturhaus Darmstadt treten die beiden erstmals als Duo auf, die Bühne bietet gerade Platz für Zwei, die Zeit für Absprachen fehlt ebenfalls, sind sie darauf angewiesen, frei zu improvisieren. Der Abend gelingt, das „Traumpaar des aktuellen deutschen Jazz“ (wie das Fono Forum später schreiben wird) hat sich gefunden. Was folgt, ist unausweichlich: Im Frühjahr 2005 erscheint mit „Melancholia“ (ACT 9433-2) das erste Album des Duos Sauer-Wollny. Beide tragen zu gleichen Teilen Kompositionen bei, im Wechsel mit gemeinsamen Improvisationen und Standards von Monk und Holiday, der Titel-Track stammt von Ellington.
Die Zusammenarbeit des Generationen übergreifenden Duos trifft mit ihrer unmittelbaren, von allem Überflüssigen befreiten Ausdruckskraft ins Schwarze. DIE ZEIT jubelt: „Der Jazz lebt hier wieder“ und auch die WELT am Sonntag zählt das Album „zum Besten, das deutscher Jazz zu bieten hat“. Nur ein Jahr darauf präsentieren sie eine weitere Dimension der gemeinsamen Auseinandersetzung: neben weiteren Klassikern aus dem Great American Songbook – von Monk und Gil Evans bis zu Gershwin und Billy Strayhorn nehmen die zwei Improvisatoren auf „Certain Beauty“ (ACT 9442-2) auch Melodien von Björk, Prince und des Esbjörn Svensson Trios zum Ausgangspunkt ihrer Dialoge. In Frankreich zeichnete das renommierte Jazzman-Magazin das Album mit dem CHOC zur CD des Jahres 2006 aus.
Ende 2007 feiert Heinz Sauer seinen 75. Geburtstag, der hessische Rundfunk widmet seinem Schaffen eine sechsstündige „Lange Jazz-Nacht“ (und kann damit gerade einmal an der Oberfläche kratzen) – und anlässlich des Jubiläums präsentiert das Album „The Journey“ (ACT 9461-2), in 15 Tracks einen Querschnitt des Sauerschen „Weltklasse-Jazz aus Deutschland“ (SPIEGEL), von frühen Aufnahmen mit dem Mangelsdorff-Quintett über die Arbeit mit NDR Bigband, hr Jazzensemble, bis zum Heinz Sauer Trio und den Duos mit Bob Degen bzw. Michael Wollny. Das Jazzpodium stellt dennoch fest: „Heinz Sauer ist, wenngleich auf zuletzt in erfreulicher Weise gestiegenem Niveau, nach wie vor unterbewertet.“
Das bleibt – angesichts von Sauers Format unumgänglich – auch so, als im Januar 2010 „If (Blue) Then (Blue)“ (ACT 9493-2) erscheint, das Heinz Sauer abwechselnd in Duos mit den Pianisten Michael Wollny und Joachim Kühn zeigt.
„Schlicht eine Meisterleistung!“ konstatiert das Magazin Stereoplay, und die FAZ fasst zusammen: „Heinz Sauers Spiel ist von unvergleichlicher Dichte, Weisheit, Vitalität, Schönheit, Unberechenbarkeit. Das noch junge Jazzjahr hat sein erstes Meisterwerk.“ Die Serie der Lobpreisungen setzt sich fort: Das Album gewinnt den Preis der deutschen Schallplattenkritik, sowie den Echo Jazz (bester Saxofonist national) und wird in Frankreich mit dem CHOC Award von Jazzman / Jazz Magazine ausgezeichnet.
Pünktlich zu seinem 80. Geburtstag erscheint mit “Don´t Explain“ (ACT 9549-2) das vierte Album von Heinz Sauer im Duo mit Michael Wollny – live aufgenommen in Darmstadt, wo für die Beiden vor nunmehr 10 Jahren alles begann. Am 2. September eröffneten Sie dort die Reihe „Live! – Jazz in der Stadtkirche“ und stellten ihr Konzert unter das Motto „Open“: „Offen für den Raum, das Publikum, die Atmosphäre, die Schwingungen, die uns während des Konzerts erreichen. Ein musikalischer Seiltanz ohne Netz und doppelten Boden“, wie Sauer zusammenfasst.
Er fühle sich „Weder Ur noch Gestein“, gab Heinz Sauer übrigens vor fünf Jahren zu Protokoll. Und das gilt noch immer: er ist im Grunde ein junger Musiker geblieben – einer, der sich noch immer weiter entwickelt.
Am 24. August 2013 erhält Heinz Sauer zusammen mit Michael Wollny im Kaisersaal des Frankfurter Römers den renommierten Binding Kulturpreis, einen der mit 50.000 Euro höchstdotierten Kulturpreise Deutschlands. Zur Begründung heißt es: „Mit dem Tenor-Saxophonisten Heinz Sauer und dem Pianisten Michael Wollny hat sich das Kuratorium der Binding-Kulturstiftung für ein schon heute legendäres Duo entschieden, das seit zehn Jahren deutschlandweit große Beachtung findet. Beide sind, in verschiedenen Generationen, große Namen im deutschen Jazz.“